Tagungsbericht: Neues aus Biopolis? Die Politik der Biomedizin

von Lukas Müller (Universität Duisburg-Essen)

Eine wohl auf den ersten Blick ungeahnte Verbindung zweier Felder gehen jenes der Politischen Theorie und das der Biomedizin ein. Inwiefern ist Biomedizin überhaupt als Gegenstand der Politik zu verstehen? Sie dient der medizinischen Anwendung neuen Wissens aus der Biologie und der Biochemie und ermöglicht neue Methoden des Eingriffs in die Entstehung und Entwicklung menschlichen Lebens. Dies birgt moralisches Konfliktpotential, beispielsweise in Bezug auf die Definition von Leben und die des Gesundheitszustands. Damit ist sie mehr als ein durch Regulierung bestimmtes Objekt der Politik – sie wird stattdessen selbst genuin politisch, indem politische Richtungen durch sie vorgegeben werden.

Unter dem Titel „Neues aus Biopolis – Die Politik der Biomedizin. Theoretische Reflexionen und empirische Annäherung“ lud die Themengruppe „Konstruktivistische Theorien der Politik“ der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) am 02. und 03. November 2017 zu einer Tagung an die Universität Duisburg-Essen in Duisburg ein. Organisiert wurde diese von Helene Gerhards (Duisburg-Essen) und von Prof. Dr. Kathrin Braun (Hannover).

Zu Beginn der Tagung wurden im Rahmen eines ersten Panels die theoretisch-empirischen Zugänge zur Biomedizinpolitik diskutiert. Nach einer Einleitung von Prof. Dr. Kathrin Braun ging Hendrik Schnitzer (München) auf die an Canguilhem angelehnte Unterscheidung von Normalem und Pathologischem als Versuch eines biologisch-normativen Konstruktivismus ein. Daraufhin legten Philipp H. Roth und Stefan Vennmann (beide Duisburg-Essen) in ihren Vorträgen Möglichkeiten des theoretischen Zugangs über Luhmann und Horkheimer und Adorno dar. Im Zuge eines zweiten Panels wurden am folgenden Tag theoretisch-empirische Konkretisierungen der am Vortag besprochenen Zugänge in den Fokus gerückt. Folgend sollen drei Vorträge zur Konkretisierung theoretisch-empirischer Zugänge exemplarisch für gesellschaftsbeschreibende Ansätze in Bezug auf drei biomedizinische Problematiken näher beleuchtet, und auf die Frage eingegangen werden, welche Rolle dabei der Biomedizinpolitik zukommt.

 

Ärztliche Expertise und Diskursüberschneidungen

Dana Ionescu (Göttingen) ging in ihrem Vortrag über Vorhautbeschneidungen bei jüdischen und muslimischen Männern auf einen Kampf um Deutungsmacht in zentralen Diskursen ein. Im deutschen medizinischen Fachdiskurs wird heutzutage die Meinung vertreten, dass die Beschneidung gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit spricht, daher als Körperverletzung zu werten sei und Traumata verursachen könne. Demgegenüber argumentieren jüdische und muslimische Betroffene mehrheitlich, dass die Beschneidung Teil ihrer kulturell-religiösen Sozialisation sei und kaum eine physische oder psychische Beeinträchtigung mit ihr einhergehe.

Von deutschen Ärzten wird die Zirkumzision nahezu ausschließlich im Falle einer medizinischen Indikation als legitime Behandlungsmethode herangezogen, weil sie durch ihre kulturell-religiöse Sozialisation geprägt sind. Denn auch der behandelnde Arzt sei sowohl durch die Mehrheitsgesellschaft als auch durch sein normatives, unterbewusst hegemoniales Biomedizinpolitikverständnis beeinflusst. Von Interesse wäre diesbezüglich, in weiteren Studien das normative Verständnis der Ärzteschaft regional zu untersuchen, um nach Überschneidungen des kulturell-religiös geprägten Diskurses und des medizinischen Fachdiskurses zu suchen und ihre Auswirkungen auf die gesellschaftliche Debatte in der entsprechenden Region zu analysieren.

 

Der Einzug des biomedizinischen Liberalismus in den Körper

Dr. Ingrid Metzler (Wien) behandelte in ihrem Vortrag zur Genom-Veränderungsmethode CRISPR, auch Genschere genannt, die Frage der sich daraus ergebenden „Zukunft/Zukünfte“ und fragt nach der Rolle der konstruktivistischen Sozialwissenschaften, um jene „Zukünfte“ in wünschenswerte Visionen umzuwandeln. Die Verbindung kontroverser biomedizinischer Projekte mit dem sogenannten biomedizinischen Liberalismus gilt als entscheidende Erkenntnis. Nach letztgenanntem Verständnis gelten Gesellschaften als eine bestimmte Gruppe von Individuen mit Freiheitsrechten, die zum Schutz vor dem Staat dienen, und innerhalb derer Individuen biomedizinische Leistungen nutzen. Dem biomedizinischen Liberalismus zufolge, wird biomedizinisches Wissen nicht öffentlich in Wohlfahrtsstaaten, sondern in privaten Sphären, von selbstzahlenden Individuen konsumiert. Das Modell des Gesellschaftsvertrags lässt sich nach der biomedizinisch-liberalistischen Anschauung in den staatlichen Investitionen in die Grundlagenforschung erkennen, die der Gesellschaft als Innovationen präsentiert werden. Durch die Privatisierung wird der Gesellschaftsvertrag gebrochen. So wird gefragt, welche Rolle der (Wohlfahrts-)Staat in der Eugenik durch CRISPR spiele. Metzler weist dementsprechend darauf hin, dass die Problematik nicht die Präsenz, sondern die Abwesenheit des Staates in biomedizinischen Debatten sei.

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Den Sozialwissenschaften wird in Deutschland bezüglich der Verbindung von Biomedizin und Liberalismus einerseits vorgehalten, als „Öl für die Maschine“ Wissen verfügbar gemacht zu haben und andererseits als „Sand im Getriebe“ dekonstruktivistisch zu wirken, gerade in der Kollektivierung biomedizinischen Wissens. Es wird die Hoffnung formuliert, die Sozialwissenschaften beschäftigten sich mit der Frage nach einer erstrebenswerten alternativen Wissensbeschaffung neben der Privatisierung und einem konstruktiv(istisch) geführten, offenem Diskurs.

CRISPR wird nach Metzler erst durch den biomedizinischen Liberalismus ermöglicht, während die Methode diesen zur gleichen Zeit verschärft. Denn über die aus CRISPR erwachsenden Gestaltungsmöglichkeiten des Körpers werde der biomedizinische Liberalismus Teil desselben. Metzler stellt infrage, ob dies erstrebenswert sei, und kritisiert, dass der Raum zur kollektiven Reflexion der biomedizinischen Errungenschaften, wie etwa die Risiko-und Chancenbewertung der CRISPR-Methode, bislang fehlte. Besonders durch die Fortpflanzungsmöglichkeit für Paare mit vererbbaren Krankheiten könne Genome-Editing als Teil der reproduktiven Freiheitsrechte angesehen werden.

 

Die produktive Kraft der Biomacht

Die Isolation von humanen embryonalen Stammzellen (hES-Zellen) wird in verschiedenen gesellschaftlichen Diskursen unterschiedlich bewertet. In einem weiteren Vortrag nähert sich Seçkin Söylemez (Duisburg-Essen) politiktheoretisch über Foucaults Konzeption der Biomacht dieser Problematik an. In der Biomedizin werden die Chancen der Forschung, insbesondere die Ausmerzung von Erbkrankheiten, in den Fokus gestellt, wohingegen etwa der deutsche Staat verbrauchende Verfahren embryonaler Stammzellen bei ihrer Isolation unter Strafe stellt. Im Gesetzesrahmen werden sowohl die Ansichten der Forschung und der Ethik geschützt. Die Forschungsfreiheit steht der Forderung nach körperlicher Unversehrtheit gegenüber, wobei Ideen zur Nutzung der hES-Zelle das Wissen über sie im Konflikt dominieren.

In der auf den Vortrag folgenden Diskussion wird darauf verwiesen, dass nach gängiger naturwissenschaftlicher Ansicht, die embryonale Stammzelle als Fakt und nicht als sozial konstruiert verstanden würde. Söylemez erklärt, in der Gesellschaft zirkuliere ein ambivalenter Diskurs, dessen Resultat, so Söylemez, die Konstruktion der embryonalen Stammzelle selbst sei. Daher stellt er die Frage, wie diese im und durch den Diskurs konstruiert wird. Es gehe nicht darum, „was“ die Stammzelle sei, sondern „wie“ sie funktioniere.

Als Orientierung dient Söylemez hier das foucaultsche Verständnis von Biopolitik, demzufolge sie als eine philosophisch-politische Frage nach der Möglichkeit und dem Modus einer Regierung des Lebens verstanden wird. Biomacht ist somit eine Machtform, die Leben macht und tötet, beziehungsweise das Recht über den Tod und die Macht zum Leben. Ferner ist Biomacht Teil aller gesellschaftlichen Bereiche und wirkt sich dabei regulierend auf das Leben aus, wodurch ‚Leben machen‘ als ‚Lebensverläufe regulieren‘ verstanden werden muss. Darauf aufbauend formuliert Söylemz, dass die hES-Zelle in Anbetracht der nun gegebenen Möglichkeit, tatsächlich ‚Leben zu machen‘, auf ihre Machtmechanismen hin dekonstruiert werde. Dementsprechend sei Biomacht hier kein erschöpfendes, sondern ein produktiv organisierendes und abschöpfendes Modell.

Söylemez benennt den medizinischen, den ethischen und den juristischen Diskurs als die drei einflussreichsten Diskurse in der Stammzelldebatte, innerhalb derer die Stammzelle selbst konstruiert werde. Es gebe nicht den Idealtyp der Trennung der drei genannten Diskurse, denn die Diskurse seien ineinander verwoben. Trotz des Verweises darauf, dass die Auswahl exakt der benannten Diskurse selektiv ausfiel, bleibt Söylemez eine präzise Begründung der Auswahl schuldig, wie auch die Frage warum nicht weitere Diskurse untersucht wurden, beispielsweise aus einer feministischen oder einer wirtschaftlichen Perspektive.

 

Die Tagung hat durch das Aufzeigen der Anwendbarkeit politischer Theorien auf das scheinbar ferne und wachsende Feld der Biomedizinpolitik die Komplexität und Aktualität der Politischen Theorie erneut vor Augen geführt. Gleichfalls verdeutlichen die schnellen Entwicklungen in der Biomedizin und die daraus hervorgehenden zum Teil ungeklärten normativen und ethischen Fragen das Hinterherhinken der Politik. Eine breite konstruktivistische Debatte über die Deutungsmacht der die Diskurse bestimmenden Begrifflichkeiten ist somit von Dringlichkeit.

 

Autor

Lukas Müller ist Studierender des M.A. „Theorie und Vergleich politischer Systeme im Wandel“ sowie wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Politische Theorie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen.

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